„Overtourism in Wien“ ist ein Thema, das mich schon seit über einem Jahr beschäftigt. Ich lebe seit 13 Jahren in Wien, ich liebe diese Stadt. Und ich beobachte Wien sehr genau. In den letzten Jahren aber wird die Stadt regelrecht von Touristen überschwemmt. Was passiert hier bloß? Man rühmt sich des guten Marketings und der Attraktivität der Stadt. Doch was steckt dahinter? Und wie entwickelt sich die Lebensqualität der Bewohner?

Ein Artikel im Magazin „Zeit Wissen“ unter dem Titel „Die unerträgliche Leichtigkeit des Reisens“ legt etwas ganz anders nahe. Kurz zusammengefasst die drei Hauptthesen des Artikels:

·         Die Zahl der Touristen wächst EXTREM. Von 2000 bis 2016 gab es eine Verdoppelung der weltweiten Touristen. Seit Ende 2012 stieg die Zahl um mehr als 30%. Der Tourismus trägt 10% des Bruttoweltprodukts bei! Ein unfassbar hoher Anteil also. Keine andere Industrie kann da mithalten. Jeder 10 Mensch arbeitet im Tourismus. 10%. Ich könnte die Zahl noch mehrmals niederschreiben, es ist unglaublich. 10 PROZENT.

·         Touristen reisen nicht mehr des Reisens wegen. Der Tourist der Gegenwart arbeitet regelrechte „Bucket Lists“ ab. Dinge, die man immer schon gesehen oder erlebt haben möchte. In die gleiche Kerbe schlagen Selfies – so das Credo des Buchs „Die Welt im Selfie“ von Marco D´Eramo. Nebenbei bemerkt steigt die Zahl der Killfies (jemand kommt während des Versuches ein (spektakuläres) Selfie aufzunehmen in einer gefährlichen Situation zu Tode).

·         Hans-Magnus Enzenberger sieht die moderne Reisebewegung auch als Flucht aus der Wirklichkeit. Die Menschen wollen raus aus ihrer Alltagsrealität und weg vom Alltagsstress. Harald Zeiss, seines Zeichens Tourismusforscher, sagt, die Menschen reisen einer Traumrealität hinterher, Instagram und Co machen es möglich. Der Traum vom schönen Leben, die Influencerin die sich einen Livestyle gönnt, der hochgradig erstrebenswert ist und der sich hinter den Kulissen als täglicher Kampf um Aufmerksamkeit und gezwungene Fröhlichkeit entpuppt. Ist man dann einmal an dem lang ersehnten Ort gewesen, kann man das wohlverdiene Hakerl setzen. Es geht nicht mehr um die Destination an sich, sondern um das Häkchen per se in der von Social Media gefütterten Bucket-List der schönsten Orte dieser Erde. Und um ein erleichtertes: „Ja, ich war dort.“. 

·         Unter diesem Gesichtspunkt kennen wir die Touristenflut aus Asien schon lange. Doch der Wohlstand gerade in Asien wächst unaufhaltsam und mit ihm die Sehnsucht Europa. Die Reise in den alten Kontinent ist zum Statussymbol geworden. Da muss man gar nicht viel werben, sie werden so oder so kommen. Hallstatt (mit 758 Einwohner) kommt gerade in den Genuss der asiatischen Touristen, so konnte die öffentliche Toilette ca. 336.000€ Jahresumsatz und einen ein Gewinn von ca. 131.000€ erzielen.

Folgende Punkte und Gedanken möchte ich gerne zu diesem Thema aufgreifen:

·         AirBnB wird beim Thema Overtourism gerne der schwarze Peter zugeschoben. Ja, AirBnB hat eine Plattform für günstige Wohnmöglichkeiten geschaffen und gleichzeitig das Angebot verstärkt. Aber: der Trend zu günstigen Unterkünften war schon früher geboren und Budget (Design Hotels) haben die letzten 20 Jahre die Welt erobert. Auch zielt AirBnB nicht nur auf kostengünstige Übernachtungsmöglichkeiten ab, gerade das Luxussegment ist stark im Kommen. Plus: AirBnB ist zunehmend professionalisiert. Ich kenne genügend Hotels, die auch Zimmer über AirBnB anbieten oder Superhosts, die damit ihr eigenes Business aufgebaut haben. Die Plattform ist in meinen Augen mehr ein Zeichen der Zeit als eine Ursache. AirBnB kann also nur als Symptom einer stattfindenden Trendwende (Sharing Economy & Co) betrachtet werden.

·         Zudem sind Flugreisen einfach viel zu billig. Wer für 350€ eine Reise nach NYC buchen oder für 100€ nach Barcelona fliegen kann, wird das auch in den allermeisten Fällen tun. Fast alles scheint möglich in der Welt des unbegrenzten Tourismus. Die Folgen für die Umwelt sind dagegen fatal. Ähnliches gilt für Schiffsreisen und das in einem noch viel stärkeren Maße.

Zurück zu Wien

In Wien ist die Grenze das Fassbaren schon längst erreicht. Zwar wird noch versucht mit neuen  bzw. unbekannten Attraktionen die Touristenströme zu zerstreuen, doch wo soll das alles letztlich hinführen? Die Flut an Touristen lässt sich ohnehin nicht mehr aufhalten. Und an diesem Punkt ist ein gutes Management gefragt. Ein Kapitän, der das Schiff sicher durch die Massen lenkt, ist jetzt wichtiger denn je. Hier gehören auch die Wiener/innen geschützt und das Kulturerbe der Stadt selbstverständlich auch. 
Ich bin fast jede Woche im 1. Bezirk unterwegs und die Massen werden immer mehr. Sogar die sehr frühen, noch ein wenig heiligen und leeren Morgenstunden werden zusehends gefüllt mit Touristen. Ich gehe samstags gerne auf den Markt, steige am Stephansplatz aus und spaziere in den 2. Bezirk hinüber. Normalerweise sind gegen 8:00-8:30 Uhr kaum Menschen unterwegs, aber es wird auch da immer voller. Vom späten Vormittag bzw. Nachmittag und Abend gar nicht zu reden. Mit den Kindern durch diese Völkerwanderung zu gehen ist eine Zumutung. Dieses Bild ist mittlerweile nicht nur am Wochenende, sondern eigentlich täglich zu erleben.

Ähnlich ergeht es uns im Haus des Meeres, ein Besucherrekord jagt den anderen. Mit dem Erfolg, dass es heuer Jahreskartenbesitzer nicht mehr gestattet ist am Wochenende das Haus des Meeres zu besuchen. Jetzt kann man mit der Privatisierung des HDM argumentieren, aber ich glaube nicht, dass es daran liegt. Die Kapazität ist schlichtweg erreicht, es passt einfach niemand mehr rein. Wirtschaftlich gesehen ist es die einzige Möglichkeit, den Zutritt der Jahreskartenbesitzern zu beschränken, aber für die Wiener Kinder ist es ein enormer Einschnitt. Soll man alles der Wirtschaftlichkeit unterordnen? 

Ich würde jetzt gerne mit unserem Sohn das Schloss Schönbrunn besuchen. Aber es ist nahezu immer überlaufen. Wir waren letztes Jahr 12 mal im Tierpark und jedes Mal bei unseren Besuchen standen die Massen vor dem Schloss und warteten auf Einlass. Ähnliches kann man auch am Weg zur Gloriette beobachten, hier wird sogar querfeldein gelaufen, um den Massen zu entkommen. Die grüne Wiese am Fuße der kleinen Prunkanlage ist bereits völlig kaputt. Hauptsache die Touristen gelangen schnell an ihr Ziel und knipsen ein Selfie. 

Ich will jetzt nicht die Wirtschaftsbedeutung des Tourismus schmälern, ich möchte nur aufzeigen – und als Einheimische möchte ich auch die Stadt erkunden und die Angebote nutzen können. Und die Stadt darf auch mal eine Pause machen, finde ich.